Europa steht am Scheideweg. Aurore Lalucq, Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses im EU-Parlament, fordert ein Umdenken in der europäischen Wirtschaftspolitik. Im Gespräch betont sie, dass Europa sich dringend von seiner bisherigen Naivität lösen muss, um seine industrielle Basis zu schützen. Lalucq erklärt, dass Europa gegenüber den USA und China ins Hintertreffen gerate, weil es keine klare Strategie zur Unterstützung grüner und digitaler Unternehmen verfolgt. Diese Wettbewerbsnachteile bedrohen die Position Europas als Produktionsstandort (euractiv: 13.09.24).
Eine Welt im Wandel: Europäische Naivität bringt Industrie unter Druck
„Die Welt hat sich verändert; wir erleben nicht länger eine ‚glückliche Globalisierung‘. Die USA verteidigen ihre Wirtschaft. Auch China verteidigt seine Wirtschaft. Und wir müssen das Gleiche tun“, so Lalucq. Dabei gehe es nicht um Protektionismus, sondern darum, „aufzuhören, so naiv zu sein“.
Europa am Scheideweg Vorsitzende des EU-Wirtschaftsausschusses, Aurore Lalucq, erklärt, warum Europa seine Naivität überwinden muss
Lalucq hebt hervor, dass sich die globale Wirtschaftslandschaft massiv verändert hat. Während die USA und China ihre Wirtschaft vehement verteidigen, steht Europa mit zunehmender Naivität passiv daneben. Europa riskiert, sich in einen reinen Konsumentenmarkt zu verwandeln, wenn es nicht entschlossen handelt. Lalucq plädiert dafür, auf europäischer Ebene alle wirtschaftlichen Mittel einzusetzen, um den Anschluss nicht zu verlieren. Gerade die staatlich gelenkten Industriestrategien der USA und Chinas stellen ein ernsthaftes Problem dar. Investitionen und öffentliche Gelder müssten stärker auf Zukunftstechnologien ausgerichtet werden.
„[Die USA und China] haben ihre Strategie. Und dann zögern sie nicht, alle ihnen zur Verfügung stehenden wirtschaftlichen Instrumente einzusetzen […]. Und das ist es, was wir auch auf europäischer Ebene tun müssen.“ Europas wirtschaftliche Schwäche wird zusätzlich durch steigende Energiepreise und geringe Produktivitätszuwächse verschärft. Die Handelskonflikte mit China, wie die kürzlich verhängten Zölle auf chinesische Elektroautos, verschärfen die Situation weiter. Auch wenn diese Spannungen unvermeidlich sind, sei es für Europa entscheidend, seine industrielle Basis zu verteidigen, so Lalucq. „Die Frage ist: Wollen wir ein Kontinent der Verbraucher sein, oder wollen wir einer der Hersteller sein? Wenn wir nur passive Verbraucher bleiben wollen, dann sollten wir keine Zölle erheben. Aber dann ist es für uns vorbei.“
Kritik an Draghis Vorschlägen: Deregulierung als Gefahr
Im Zusammenhang mit Mario Draghis Bericht über die EU-Wettbewerbsfähigkeit zeigt sich Lalucq gespalten. Sie stimmt der Diagnose zu, dass Europa vor großen Herausforderungen steht, äußert jedoch Bedenken bezüglich Draghis politischen Vorschlägen. Besonders kritisch sieht sie die Idee, die europäische Solarmodulindustrie aufzugeben, da sie angeblich zu weit zurückgefallen sei. „Es ist nie zu spät. Es ist eine politische Entscheidung. Ehrlich gesagt ist die Situation [zum Schutz der europäischen Solarmodulindustrie] nicht einfach, aber wir müssen trotzdem alles tun, was notwendig ist, um unsere Autonomie zu bewahren.“
Besonders vehement lehnt Lalucq Draghis Vorschlag zur Deregulierung des Bankensektors ab. „Wenn es um die Regulierung des Bankensektors geht, wäre es ein Fehler zu deregulieren“, betont sie. Solche Maßnahmen könnten Europas Wettbewerbsfähigkeit schaden, da „eine Banken- oder Finanzkrise die gesamte Wirtschaft gefährden kann, was für niemanden gut ist.“
Kapitalmarktunion: Kein Allheilmittel für den grünen Wandel
Ein weiterer Punkt der Diskussion dreht sich um die Kapitalmarktunion (CMU), die von vielen europäischen Politikern als Schlüssel zur Finanzierung des grünen und digitalen Wandels angepriesen wird. Lalucq äußert Zweifel, dass die Kapitalmarktunion allein die notwendigen Investitionen ermöglichen kann. Vor allem die politischen Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten behinderten eine vollständige Integration. Die Harmonisierung von Steuer- und Insolvenzgesetzen bleibt ein großes Hindernis.
„Ich bin nicht gegen die Idee einer Kapitalmarktunion. Sie könnte nützlich sein, um neue Ressourcen zu finden. Aber es würde bedeuten, dass so viele Hindernisse überwunden werden müssten, nur um sie umsetzen zu können“, sagt sie. Eine vollständig integrierte Kapitalmarktunion wäre auch „keine Wunderlösung für unseren Investitionsbedarf“.
„Irgendwann werden wir auf öffentliche Gelder zurückgreifen müssen, wenn wir das Investitionsniveau erreichen wollen, das für den grünen und digitalen Wandel erforderlich ist.“
Die Europäische Kommission schätzt, dass eine vollständig integrierte Kapitalmarktunion etwa 470 Milliarden Euro an privaten Finanzmitteln pro Jahr generieren könnte. Diese Summe würde jedoch nur einen Teil des Investitionsbedarfs decken. Einige Experten gehen sogar davon aus, dass die Kommission die potenziellen Finanzmittel überschätzt und der tatsächliche Bedarf deutlich höher ausfallen könnte.
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